Verschollen im Tessin

 

 

Verschollen im Tessin

 

Bei schönstem Sonnenschein machte sich Erich am nächsten Morgen auf den Weg, um unsere Lebensmittel auszulösen und doch noch ein paar Möbel aufzutreiben.

 Die Helifirma hatte uns für diesen Tag einen Ersatzflug angeboten. Ich würde mit den Jungs zu Hause bleiben und die Lieferung in Empfang nehmen.

 Für einmal war meine Tendenz Dinge „doppelt x mehrfach“ zu planen ein Vorteil. In meinem Kopf standen noch weitere Einrichtungskonzepte bereit. Eines davon würde sich trotz begrenzter Auswahl bestimmt umsetzen lassen. Und genau das würde schlussendlich die optimale Möbelauswahl sein! Eigentlich waren wir wieder ganz optimistisch gestimmt. Ausserplanmässiger als am Vortag würde es wohl nicht ablaufen können.

 

Am Nachmittag meldete sich Erich übers Handy. Seine Stimme klang heiter. Er hätte die Lebensmittel abgeholt und lade nun die Möbel. Eventuell fahre er anschliessend noch in den Nachbarort, um dort eine Leiter zu kaufen. Erstaunt blickte ich auf die Uhr. Die Zeit schien mir etwas knapp. Aber Erich klang so fröhlich, dass sich meine Bedenken in Vorfreude auflösten.

Eine halbe Stunde vor dem geplanten Flug, erhielt ich ein Telefonat aus der Helikopterzentrale: Sie stünden bereit, wo wir bloss seien? Ich bat um Geduld und verwies auf die vereinbarte Zeit.

Eine halbe Stunde später der zweite Anruf: Mein Mann sei noch immer nicht hier und würde ihre Anrufe nicht beantworten. Sie hätten noch andere Flüge auf dem Programm. Sie könnten nicht mehr viel länger warten.

Etwas nervös wählte ich Erichs Nummer. Fünfmal vergeblich.

Ein wenig später: Wieder die Zentrale. Sie würden einen Flughelfer raufbringen. Ein Weiterer würde unten beim Landeplatz warten, und Erich beim Laden helfen. Zwischenzeitlich würde der Heli einen anderen Flug vorziehen.

 Trotz meiner Sorge hätte ich die Telefonistin am liebsten umarmt. Erich würde wieder auftauchen. Und Dank der hilfsbereiten Crew des Heli Unternehmens, würde auch das Gepäck oben ankommen. Und das war nötig: Unser Notvorrat war auf wenige Kräcker, Eistee-Instantpulver und frisches Leitungswasser geschrumpft.

 

Endlich vernahmen wir das Brummen des Helikopters. Knapp über unserer Wiese schwebend, liess er den Flughelfer rausspringen. Die Jungs hiessen ihn mit enthusiastischem Winken willkommen.

 Mir war es eher übel. Warum war Erich nicht erreichbar? War er in einen Verkehrsunfall verwickelt worden? Wie sicher fuhr er überhaupt noch, nach dem wir nun schon ziemlich lange kein eigenes Auto mehr hatten?

 Ich servierte dem jungen, charmanten Tessiner ein Glas Eistee. Da wir uns kaum verständigen konnten, warteten wir schweigend.

 Als die Entsorgungsfirma anrief und in raschem und eher aufgebracht klingendem Italienisch auf mich einredete, reichte ich das Telefon an den Flughelfer weiter. Er sagte ein paar wenige Worte und legte dann auf. Schweigend warten wir weiter.

Dann meldete sich die freundliche Frau der Zentrale wieder. Sie können den Flug nun nicht mehr länger aufschieben, erklärte sie. Sie seinen besorgt, sagte sie noch, und so klang sie auch. Sie hoffe meinem Mann gehe es gut. Er hätte bis jetzt noch keinen einzigen ihrer Anrufe beantwortet.

 

Der Heli kam und schwebte über der Wiese. Der Flughelfer befestigte das Netz mit dem Abfall. Die Matratzen hatten sich am Vortag mit Regenwasser vollgesogen, und es schien, als müsste der Heli während des Steigens für einen Moment das Gleichgewicht suchen.

 Wir schauten dem tropfenden Gerümpel nach, bis wir ihn aus den Augen verloren. Wie hatte ich mich auf diesen Moment gefreut! Und nun kämpfte ich gegen die Tränen.

 Der Flughelfer war noch oben geblieben. Nach wie vor hofften wir, dass alles noch klappen und die Lebensmittel und Möbel in einem zweiten Flug gebracht werden könnten.

Doch knapp eine Stunde später verabschiedete sich auch der Flughelfer. Sein Gesicht war besorgt. Er überwand seine Hemmungen und sagte in gebrochenem Deutsch, er hoffe dass alles gut werde, und mein Mann zurückkomme. Sie hätten in der Zentrale immer noch nichts von Erich gehört und an diesem Tag könne der Flug nicht mehr stattfinden. Er begab sich auf eine benachbarte Wiese, wo er schon bald darauf vom Heli in den Feierabend geflogen wurde.

 

Nun waren wir also ganz allein auf dem Berg. Und so fühlte ich mich auch.

 Wir klammerten uns an die Hoffnung, dass Erich ganz einfach in einem Stau steckte und sein Natel tot war. Schliesslich hatte er den Akku oben auf dem Berg nicht laden können. Aber auch Robin und Maurus machten sich inzwischen Sorgen. Der Ferienjunge hingegen nahm Erichs Verschwinden lockerer. Was ihn empörte war die Tatsache, dass ich ihm zum Abendbrot bloss Kräcker servieren konnte.

 

Nach dem Essen schauten wir gemeinsam in Tal hinunter. Wenn man die Augen anstrengte, konnte man kleine Menschen erkennen und Autos. Viele Autos.

 „Wenn Daddy nicht wieder kommt, musste du dir einen neuen Mann suchen“, meinte unser Jüngere mit verhaltenem Schluchzen. „Vielleicht wurde der Papa entführt“, meinte der Ältere. Trotz aller Angst musste ich lachen. „Das glaube ich weniger“, beschwichtigte ich. Wir beteten für Papa und dann schlüpften die drei Jungs in ihr Bett.

 

So bald wie möglich trat ich wieder nach draussen um nach unten ins Tal und auf den Weg, der zu unserem Häuschen führt zu starren. Beten und Warten war alles was ich tun konnte. Inzwischen war es mir nicht mehr nur übel, sondern speiübel. Unten hatten sich die Staus schon länger aufgelöst und inzwischen würde Erich die Möglichkeit gehabt haben, an einem Bahnhof ein Münztelefon zu benutzen.

 

Die Zeit verging, aber ich konnte nicht aufhören, nach unten zu starren. Als mir bewusst wurde dass ich auch am ganzen Körper zitterte, zwang ich mich schliesslich ins Haus zu gehen. Ich legte mich aufs Bett und schlief wider Erwarten augenblicklich ein. Eine halbe Stunde später erwachte ich wieder, weil mir so elend war.

 Mit dem wertvollen Rest des verbleibenden Akkus meines eigenen Handys, rief ich meine Eltern an. Ich bat sie, die Polizei zu kontaktieren.

 

Etwas später rief meine Mutter zurück. Es sei weder in den Krankenhäusern noch auf einer Polizeistation in der Gegend eine Meldung eingegangen. Ich könne nun beruhigt sein.

 Ich legte mich wieder aufs Bett und versuchte zu lesen. Ich las dieselben Sätze immer und immer wieder.

 Dann plötzlich- Schritte. Mit einem Satz war ich an der Tür. Erich. Müde aber heil. Ich fiel ihm um den Hals. Inzwischen war mein Mann mehr als fünf Stunden verschollen gewesen.

 Er schaute mich befremdet an, als ich vor Erleichterung zu weinen begann. „Warum hast du dich nicht gemeldet?“ frage ich.

 „Der Akku war leer. Und ich musste ja noch das Mietauto zurückbringen. Auf der Strasse gab es einen Unfall und deshalb dauerte alles länger. Hattest du Angst?“

 „Ich habe stundenlange nichts von dir gehört und die vom Heli wusste auch nicht wo du mit der Ladung bist. Wir haben dir unzählige Male angerufen. Wir haben uns alle riesige Sorgen um dich gemacht!“

 

Erich schaute sich entsetzt um: „Die haben gar nichts rauf gebracht? Ich habe alles an der vereinbarten Stelle bereitgelegt…gut, vielleicht nicht ganz genau am selben Fleck wie das letzte Mal, aber auf derselben Wiese. Und ich war eine halbe Stunde zu spät, vielleicht auch etwas mehr…Liegt also noch alles unten auf der Wiese? Waren im Wert von 3000 Franken? Wie ist der Wetterbericht für die Nacht?“

 

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